Als letzte Woche die Missbrauchsstudie der schweizerischen Bischofskonferenz an der Universität Zürich vorgestellt wurde, da waren viele geschockt und sprachlos.
Ich befand mich gerade mit 14 Priestern bei der Dekanatsfortbildungswoche. Schnell sprach sich der Stand der Dinge unter uns Mitbrüdern herum – und die Reaktion war – bedrücktes und betroffenes Schweigen. 1002 nachgewiesene Fälle bei 510 Beschuldigten in 70 Jahren. Unser Mitgefühl galt und gilt den Opfern von Grenzüberschreitungen, von geistlichem und sexuellem Missbrauch und wir fragten uns, wie konnten Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeitende zu solchen Taten fähig sein? Und das in einer Zeit, in der Moral, Schuld und Sünde in der kirchlichen Verkündigung damals besonders betont wurden?
Die Diskussion unter uns veränderte sich. Viele fragten sich, wie können wir in unseren Kirchgemeinden vor Ort nun glaubwürdig weiterarbeiten? Enttäuschung und Hilflosigkeit machten sich breit. Zum einen, weil auch Verantwortliche versagten, zum anderen, weil der Schutz der Institution oft wichtiger war, als der Schutz der Opfer. Als Bischof Joseph Maria Bonnemain in den Medien sagte «mir geht es nicht gut» verband sich mit gleichen Gedanken unsere Gefühlslage: auch uns geht es nicht gut. Vielen zuverlässigen Gläubigen und Mitarbeitenden geht es nicht gut.
Nun wird zurecht diskutiert. Fernsehsendungen berichten, manche werden sich zurückziehen, Kirchenaustritte werden zunehmen. Was, wenn nun alle gehen? Dann bräuchten wir keine Kirchen, Kapellen und Gebäude mehr als Kulturerbe erhalten. Dann bräuchten wir uns nicht mehr um gottesdienstliche und kirchliche Anlässe bemühen. Dann gibt es keine Kirchen mehr in unserem Land. Was aber ist dann? Kann das die Lösung sein?
Und wir, die wir bleiben? Die, die sich auch in Zukunft für ein christliches Miteinander, für den Glauben, den Erhalt unserer schönen Kultur, die Werte und unsere Zivilgesellschaft engagieren? Wir, die weiterhin Betagte, Einsame und Kranke besuchen und seelsorglich begleiten? Wir, die sich weiterhin in Verkündigung, Religionsunterricht, in der Kinder- u. Jugendarbeit, der Ministrantenpastoral, in Caritas, im Tischlein deck dich, für Senioren und Familien, bei Gottesdiensten, in Chören, kirchlichen Gremien, Räten und Vereinen engagieren? Die, die weiterhin beten, zu den Sakramenten und Gottesdiensten kommen und unsere Gemeinden mit Leben erfüllen? Was ist mit uns?
Gerade in schweren Zeiten gilt mehr denn je Zusammenhalt. Der innere Zusammenhalt in einer Familie zeigt sich nicht nur in frohen Stunden, sondern vor allem in Krisenzeiten. Dies gilt gerade jetzt für die Familie Jesu Christi – die Kirche.
Deswegen braucht es nun wirklich einen Kulturwandel. Und ich bin überzeugt, dass dieser Kulturwandel in der Kirche bereits angebrochen ist.
Die katholische Kirche Schweiz hat nämlich selbst die Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch seit 1950 an der Uni Zürich in Auftrag gegeben und dazu ihre Archive geöffnet. Dadurch zeigt die Bischofskonferenz ihren wirklichen Willen und ihre ehrliche Absicht zur schonungslosen Aufarbeitung. Diesen guten Willen sollte der Kirche niemand absprechen. Ich bin dankbar, wenn in diesem Zusammenhang auch andere Institutionen, Kirchen, Gemeinschaften, Sportverbände, Schulen und Gemeinden den Schritt der Aufarbeitung und Prävention tun. Denn Missbrauch ist leider ein gesamtgesellschaftliches Thema.
Wenn die wichtige Diskussion in diesen Wochen in diesem Sinne wirklich Früchte trägt, dann war dies ein notwendiger und heilsamer Schock. Was bleibt sind immer noch die Opfer. Und unser Mitgefühl und unsere Solidarität gilt an erster Stelle ihnen.
Es muss sich etwas ändern!
Unter anderem auch, was den Generalverdacht gegen alle in der Kirche angeht. Es gibt nämlich viel mehr engagierte Frauen und Männer, die hervorragende Arbeit in den Gemeinden geleistet haben und leisten. Das dürfen wir nicht übersehen. Die Mehrheit lebt, was im Evangelium steht. Und: Missbrauch bleibt immer zuerst eine schwere persönliche Schuld und Sünde des Einzelnen.
Und nun, wie weiter?
Ich danke allen, die sich weiterhin engagieren, unsere Kirchgemeinden vor Ort unterstützen und für eine geläuterte und glaubwürdige Kirche eintreten. Ich danke allen, die durch ihr Glaubenszeugnis der Heuchelei entgegenwirken. In diesem Sinn werde auch ich weiterhin meinen priesterlichen Dienst für die Menschen in Davos und im Dekanat tun. Trotz allem.
Mit dankbaren und herzlichen Segenswünschen
Dekan Pfr. Kurt B. Susak
Katholische Kirche Davos